Buchstäbliches – O

Ohne Vokale Texte zu schreiben oder sie zu verstehen erscheint uns heute kaum noch möglich. Dabei galt diese Art der Schriftverwendung lange Zeit als selbstverständlich; aufgezeichnet wurde nur das nackte Gerüst der Konsonanten, je nach Zusammenhang und vermuteter Bedeutung reicherten die Sprecher die Wörter dann mit klingenden Vokalen an.

Sinaischrift

phönizisch (8.Jh.v. Chr.)

archaisches griechisch (7.Jh.)

 

griechisch Omikron

griechisch Omega

römisch (5.Jh.)

römisch (4.-3.Jh.)

Entsprechend gibt es keine frühen Beispiele für den Buchstaben O, der wie alle anderen Selbstlaute erst vergleichsweise spät als Verselbständigung von erklärenden Zusatzzeichen entstand. In den alten semitischen Sprachen hieße es Ajin, die beiden in der Sinaischrift dafür verwendeten Zeichen erklären diesen Begriff: Die mehr bildhafte Variante zeigte ein frontal gesehenes Auge, die stilisierte ein waagerecht gelagertes, zu beiden Seiten spitz zulaufendes Oval.

Bei den Phöniziern tauchte das Zeichen zum ersten Mal im 8. Jahrhundert vor Christus als Halbkonsonant auf, sie schreiben es als einen mehr oder weniger exakten Kreis. Die Griechen der Frühzeit übernahmen das Zeichen dann weitgehend unverändert, fügten jedoch gelegentlich eine rechtsseitig offene Variante hinzu, die formal an unser C erinnert.

Bis zu der Ausbildung des klassischen Griechisch hatte sich der Buchstabe in zwei deutlich voneinander unterschiedene Zeichen gewandelt: An seinem ursprünglichen Platz im Alphabet stand der kurz ausgesprochene Nachfolger des Ajin mit der Bezeichnung Omikron (O-mikron, also das kleine O), geformt als Oval mit vertikaler Achse. Neu hinzugekommen und am Ende der Buchstabenreihe platziert, fand sich das lang ausgesprochene Omega (O-mega, das große O), ein unten offener Kreis mit zwei horizontalen Ausläufern.

Cap. monum.

Cap. quadrata

Cap. rustica

Unziale

Halbunziale

angelsächisch

karoling. Minuskel

got. Buchschrift

Textur

Rotunda

lombard. Initial

Seine formal lebhafteste Epoche macht das O, inzwischen über etruskische Vermittlung wieder auf einen einzigen Buchstaben reduziert, in der römischen Frühzeit durch. Im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert erschien es als kleiner, von der Schriftlinie emporgehobener Kreis. Im 4. und 3. Jahrhundert wurde es mal aus zwei gegeneinander offenen Dreiecken und mal aus zwei dicht beieinander stehenden Klammern gebildet, schloss sich dann oben und schließlich auch unten, womit es wieder zur alten Kreisform zurückgekehrt war.

In der Capitalis Monumentalis wandelte sich das schlichte Oval zu einem aufwendig konstruierten Buchstaben mit leicht nach links geneigter Achse und einem kompliziertem geometrischem Aufbau. In der Quadrata war diese Ausrichtung weniger deutlich, in den flüchtigeren handschriftlichen Fassungen der Rustica dagegen lässt sich aufgrund der Haltung des Schreibgeräts eine klare Asymmetrie erkennen.

Bis zur Ausprägung der gotischen Buchschriften beschränkten sich die Wandlungen vor allem auf die Lage der Hauptachse; bei vielen Unzialformen war diese streng senkrechte ausgerichtet, die weichere angelsächsische und karolingische Minuskel verschob die Achse wieder nach links.

Gutenberg- Textur

Luthersche Fraktur

Schwabacher

Die engen und formalisierten Schriftgestaltungen des Mittelalters setzten zwei mehr oder weniger gerundete Winkel diagonal zusammen: In frühen und dann wieder rundgotischen Varianten nähern sie sich einer schlanken Ellipse an, und bei der strengen Textur sind sie fast auf ein enges Rechteck reduziert.

Trotz seiner einfachen und durch die Jahrtausende nur wenig veränderten Kreisgestalt hilft uns der Buchstabe O bei der formalen Zuordnung der neu entstandenen Druckschriften. Während die Renaissanceantiqua die nach links geneigte Achse beibehält, steht diese bei der Barockantiqua fast und bei der klassizistischen Antiqua völlig senkrecht. Hier ist der Unterschied zwischen dünnen und breiten Segmenten der Rundung am deutlichsten ausgeprägt. Bei den späteren serifenlosen Antiquaformen scheinen auf den ersten Blick häufig wieder einfache und gleichmäßig gezogene Kreise vorzuherrschen; in Wahrheit handelt es sich durchaus nicht immer um diese reine geometrische Figur, und auch die Strichstärke variiert schon mal.