Am Anfang war das Rind

Am Anfang war das Rind. Heute steht es – kaum noch wieder zuerkennen – auf dem Kopf. Das Ensemble der von uns gebrauchten, sogenannten lateinischen Schriftzeichen nennen wir Alphabet. Der Name Alphabet leitet sich von Alpha und Beta her, den beiden ersten Buchstaben der griechischen Buchstabenreihe. Diese hatte allerdings ein anderes Ende als die unsere, sie reichte bis zum Omega. Das Z, unseren letzten Buchstaben, gab es damals noch nicht.
Die Griechen waren aber nicht die ersten, die ihren Schriftsymbolen die Namen Alpha, Beta, Gamma… gaben. In der frühen semitischen Kultur trugen die Symbole bestimmter Lautwerte vergleichbare Namen: Aleph, Beth, Gimel… Aleph war die Bezeichnung für Rind, und wie das stilisierte Bild eines Rindes sah das Zeichen aus: Ein dreieckiger Kopf mit zwei mächtigen Hörnern. Drehen wir unser großes A herum, taucht die Ähnlichkeit mit einem Rind wieder auf.
Das griechische Alphabet repräsentiert erstmals alle Laute und ordnet ihnen mehr oder weniger eindeutig Buchstaben zu.

Mit Schrift richtig umgehen können nur jene, die das Arbeiten mit Bleilettern und Winkelhaken erlernt haben und den zielsicheren Griff in die Fächer des Setzkastens im Schlaf beherrschen – so scheinen manche Vertreter traditionsverhafteter Typographie zu glauben. Dabei lenken immer mehr Praktiker des Desktop Publishings ihr Interesse auf Ästhetik und Geschichte der Schrift und versuchen deren gegenwärtige Erscheinungsformen durch einen Blick auf ihre Entwicklung besser zu verstehen.

 

ägyptisch

 

 

Sinai-Schrift

 

 

kretisch

 

 

nordsemitisch

 

 

frühgriechisch

 

 

westgriechisch

 

Der Umgang mit den Schriftzeichen ist – im buchstäblichen Sinne – durch DTP unbeschwerter, sinnlicher und nachvollziehbarer geworden.
Nicht mehr das physische Gewicht der gesetzten Form kennzeichnet den Prozess, nicht mehr der seitenverkehrte Aufbau, nicht mehr das langwierige Montieren und Ausgleichen. Der Zauber des Wysiwig erlaubt den nahezu unmittelbaren Umgang mit allen typographischen Elementen und Parametern, die direkte visuelle Kontrolle veränderter Laufweiten und Zeilenabstände, Schriftgrade und Einzüge.
Zusätzlich angeregt durch Software zum Manipulieren bestehender Fonts und zum zaghaften (Nach-)Gestalten eigener, richtet sich das Interesse früher oder später auf die Form des einzelnen Zeichens, auf das, was allen gleichbedeutenden Buchstaben – etwa allen A – gemeinsam ist beziehungsweise darauf, was sie voneinander unterscheidet. Und soweit es sich bei diesen Differenzen nicht um willkürliche Zutaten der Gestalter handelt, beziehen sie sich fast immer auf historische Varianten, die die Summe aus der Kommunikationsabsicht, dem Werkzeuggebrauch und dem zeitbedingten Stil im Spannungsfeld von demütiger Befolgung der Tradition und dem Wunsch nach Originalität darstellen.

 

griechisch

 

 

etruskisch

 

 

frührömisch

 

 

römische Monumentalschrift

 

 

Capitalis Rustica

 

 

Quadrata

 

 

Unzialschrift

 

Der Buchstabe A lässt sich zurückverfolgen bis zu einer ägyptischen Hieroglyphe, die in unterschiedlich stilisierten Darstellungsformen den nach links gewandten Kopf eines Rindes zeigt. Ähnliche Zeichen finden sich sowohl in der Sinai-Schrift (19. Jahrhundert vor Christus) wie in kretischen Beispielen. Die phönizische Schrift bildet den gehauchten Laut, den die Griechen später als Vokal Alpha übernehmen, zunächst in der Form unseres K ab, erst im 14, vorchristlichen Jahrhundert tauchen Varianten auf, bei denen der spitze, nach links gerichtete Winkel die senkrechte Linie schneidet. Zudem neigt sich der untere Schenkel dieses Winkels so, dass er nahezu waagerecht nach links kippt. Inschriften des 8. Jahrhunderts vor Christus aus Athen zeigen das Alpha noch in dieser übernommenen Weise, doch schon bald bildet sich die Grundstruktur des heute benutzten Buchstabens heraus: ein nach oben weisendes spitzwinkliges Dreieck. Länge und Lage des Querstrichs bleiben noch lange uneinheitlich.
Die heute als klassische Vorbilder geltenden Ausprägungen in der römischen Monumentalschrift besitzen alle Merkmale unserer Antiquaschriften. Der linke Schenkel und der waagerechte Strich sind dünn ausgelegt, der rechte wesentlich breiter. Während sich die Steininschriften in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten kaum verändern, verzichten die Handschriften – am bekanntesten die Capitalis Rustica und die Quadrata – auf den Querstrich und geben nur den Winkel wieder.

 

lateinischer Codex, 7./8. Jh.

 

 

angelsächsische Minuskel

 

 

angelsächsische Schrift, 8./9. Jh

 

 

präkarolinger Minuskel

 

 

karolingische Minuskel

 

 

frühgotische Minuskel

 

 

rundgotische Schrift

 

 

gotische Buchschrift

 

Die spätantiken und frühmittelalterlichen Unzialschriften betonen den stark geneigten rechten Schenkel des A, und der linke wird mit dem Querstrich vereinigt und in Form eines dünnen Hakens oder Bogens angesetzt.
Die Formen des Versal-A in den nächsten Jahrhunderten weisen keine grundlegenden Veränderungen auf. Erst mit der Tendenz zur Vereinheitlichung im fränkischen Reich – und zeitgleich mit angelsächsischen Entwicklungen – erscheint als neuer Typ die Minuskel (Kleinbuchstabe). Diese unterscheidet sich allerdings von der Majuskel (Großbuchstabe) nicht durch die Art der heute üblichen Verwendung, denn zu dieser Zeit beginnen nur Satz- oder Absatzanfänge mit einem Großbuchstaben. Bereits in der merowigischen und präkarolingischen Minuskel wird das Unzial-A runder und gedrungener. Die karolingische Minuskel führt diese Formwandlung weiter und gibt dem linken Bogen wieder eine stärkere Bedeutung.
Bei der Produktion mittelalterlicher Handschriften setzen sich bald verbesserte Schreibgeräte durch; die Schrift wird strenger, senkrecht ausgerichtet und durch die Federhaltung klar strukturiert. Die gotischen Buchstaben mit ihren gebrochenen Linienzügen entstehen, als Initialen setzt man häufig die Buchstaben der lombardischen Versalschrift ein, bei denen der rechte A-Schenkel senkrecht steht, während der linke ausgebuchtet ist und einen doppelten Kurvenzug aufweist.
Eine formal übereinstimmende Gestaltung für Versalien und Gemeine findet sich in der spätmittelalterlichen Textur; das kleine a folgt dabei seinen Vorläufern, während das große noch zusätzliche Zierelemente erhält. Gutenberg übernimmt in seinem breitgefächerten Typenrepertoire weitgehend die Merkmale der Textur; der obere waagerechte Abschlussstrich des A – als Serife schon in der römischen Capitalis angedeutet und in angelsächsischen und lombardischen Ausprägungen zunehmend eigenständiger – wird nun zu einem kennzeichnenden Merkmal des A und vereinigt sich bald mit dessen linkem Schenkel. Der mittlere Querstrich (beispielsweise in der Lutherischen Fraktur oder bei der Schwabacher) rutscht nach unten und macht den Buchstaben so zu einem offenen.

 

Luthersche Fraktur

 

 

Schwabacher

 

 

Garamond Renaissance-Antiqua

 

Das kleine a war lange durch die Dominanz des querliegenden oder senkrechten Hauptstrichs gekennzeichnet, der den linken Teil gerade oder gebogen überragte; erstmals in der angelsächsischen Minuskel schließt der Bogen oben in gleicher Höhe an. Diese Abwandlungen finden sich später in der gotischen Buchschrift wieder, außerdem in vielen Frakturvarianten.
Während im deutschen Bereich überwiegend die gebrochenen Schriften Verwendung finden, greift die humanistische Minuskel auf die Formen der karolingischen zurück, wobei das kleine a in die Senkrechte rückt und beide Varianten aufweist: Sowohl die mit dem rechten, nach links gebogenen Stamm als auch die oben geschlossene, in einem Zug geschriebene. Aus der unzutreffenden Annahme der Humanisten, die karolingische Schrift gleiche jener der römischen Antike, folgt ihre Beziehung als Antiqua: die alte (Schrift). Die Versalien übernehmen sie aus der von Steininschriften bekannten römischen Capitalis.
Durch die mit dem Buchdruck einsetzende Standardisierung gibt es in der Folgezeit keine größeren Formveränderungen mehr. Form, Anschlußrundungen und Stärke der Serifen und Haarlinien variieren, werden mit dem Entstehen der Kupferstecherschriften hauchdünn, später bei den Egyptienne- und Italienneschriften dagegen gleich- oder sogar übergewichtig. Der freie Zug der Feder auf dem Lithografenstein ermutigt zu schwungvollen Linienführungen. Der Verzicht auf Serifen bei den im 19. Jahrhundert aufkommenden „Skelettschriften“ erscheint den Zeitgenossen so merkwürdig, dass sie von Groteskschriften sprechen.
Der Historismus und der Jugendstil greifen noch einmal auf spätantike und mittelalterliche Formen zurück, vor allem bei der A-Versalie. Mit dieser Ausnahme jedoch (und abgesehen von der Diskreditierung der gebrochenen Schriften in Deutschland nach ihrem durch die Nationalsozialisten verordneten Gebrauch) hat sich seit der Renaissance an der Gestalt von A und a nichts Wesentliches verändert.